Kolumne im Tagesspiegel: Raum für Innovation schaffen
Haben es digitale Innovationen in Deutschland schwer? Wenn der richtige Raum dafür gegeben ist, kann es gelingen. Gastautor Sven Weizenegger erklärt anhand des Cyber Innovation Hubs der Bundeswehr, wie Strukturen in der Digitalisierung in Frage gestellt werden können, ohne den Kern aufgeben zu müssen.
Es gibt einen Satz, den man immer wieder hört, wenn es um den Stand der Digitalisierung geht: „Innovationen haben es in Deutschland schwer.“
Doch ganz so pauschal stimmt diese Aussage nicht: Denn natürlich gibt es auch hierzulande viele kluge Köpfe mit tollen Ideen. Wenn mittelständische Unternehmen beispielsweise nicht so meisterhaft darin wären, ihre Produkte Schritt für Schritt weiterzuentwickeln, dann gäbe es in Deutschland weit weniger Firmen, die in ihrer jeweiligen Nische Weltmarktführer wären. Wahrscheinlich gibt es kein anderes Land, in dem inkrementelle Innovationen so viel Erfolg haben wie in Deutschland.
Disruptive Innovationen stellen Strukturen in Frage
Mit disruptiven Innovationen jedoch gibt es in Deutschland tatsächlich ein Problem. Sie stellen bestehendes Wissen in Frage – und davon gibt es hierzulande eine Menge. Sie entwerten bewährte Strukturen und zwingen jeden einzelnen dazu, sich selbst und das eigene Denken zu hinterfragen.
Digitale Innovationen sind sehr oft disruptiv. Sie durchbrechen althergebrachte Ideen und schaffen neue Sinnzusammenhänge, in denen die Dinge anders funktionieren als früher. Und wo das einmal passiert ist, bleibt kaum mehr etwas vom Alten übrig, das inkrementell weiterentwickelt werden könnte.
Eine der größten Herausforderungen dabei ist, dass der digitale Wandel an deutschen Selbstverständlichkeiten rüttelt: Obwohl das Bewährte eigentlich noch gut funktioniert, müssten wir eigentlich jetzt schon die Welt neu denken lernen, um zukunftsfähig zu bleiben. In der Praxis ist das jedoch nicht einfach. Schauen wir nur auf jene deutschen Automobilkonzerne, die viel zu lange am Verbrennungsmotor festgehalten haben, weil er sich gut verkaufte – während sich Anbieter von Elektrofahrzeugen einen mit der Zeit immer größeren Wettbewerbsvorsprung bei einer Zukunftstechnologie verschaffen konnten.
Wäre es nun sinnvoll gewesen, wenn die deutschen Autobauer schon früher und radikaler auf Elektromobilität umgestellt hätten? Wohl kaum, denn der Verbrennungsmotor ist immer noch die Geschäftsgrundlage und die Haupteinnahmequelle für deutsche Automobilunternehmen. Der plötzliche Verzicht auf den Verkauf von Diesel- und Benzinfahrzeugen hätte nicht nur die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen gefährdet, sondern auch keinen Platz für die nötigen Fehler gelassen, die es bei der Entwicklung neuer Technologien immer gibt und auch geben muss.
Innovation und gleichzeitig Festhalten klappt nicht
Und was wäre passiert, wenn man beides parallel gemacht hätte? Ein gleichzeitiges „Run the Business“ und „Change the Business“ geht meistens schief: Denn wenn man sich darum sorgen muss, dass das Tagesgeschäft läuft, dann gibt es wenig Raum für Innovation und das damit verbundene mögliche Scheitern. In solchen Situationen setzt man dann lieber wieder auf eingeübte Prozesse und Strukturen.
Solche Zusammenhänge betreffen nicht nur Unternehmen. Auch große Organisationen wie die Bundeswehr stellt dieser grundlegende Wandel vor Herausforderungen. Alles, was anderswo durch die disruptiven Innovationen im Bereich der Digitalisierung infrage steht, findet man auch hier — zum Beispiel über Jahrzehnte erworbene Expertise und teils sogar gefechtserprobte Strukturen. Einerseits muss auch die Bundeswehr umdenken, um den Bedingungen der sich sowohl technisch wie auch soziokulturell verändernden Welt gerecht zu werden. Andererseits hängen an den erprobten Strukturen bei Auslandseinsätzen auch Menschenleben. In diesen Fällen vermeidbare Fehler zu machen – das schließt sich aus.
Raum für Innovationen
Die Lösung für dieses Dilemma sind Digital Innovation Units (DIUs). Deswegen existiert seit 2017 auch der Cyber Innovation Hub der Bundeswehr. Hier können Dinge ausprobiert werden, die in großen Organisationen nicht ohne Weiteres funktionieren. Wenn sich Innovationen bewährt haben, können sie in der gesamten Truppe eingesetzt werden.
Innerhalb von 90 Tagen soll eine neue Technologie das erste Mal erprobt werden. Falls etwas dann in der Anwendung nicht funktioniert, muss man auch den Mut haben, Projekte zu beenden. Wenn es funktioniert: umso besser.
Mit einer DIU kann man die Prozesse von „Run the Business“ und „Change the Business“ trennen, die in großen Organisationen so selten nebeneinander funktionieren. Wir wollen beispielsweise im Hub nicht vorsätzlich Fehler machen, schätzen sie jedoch sehr, wenn sie trotzdem passieren. Denn wir lernen aus ihnen, ohne dass dabei größerer Schaden entsteht. Auch wenn ein Innovationsvorhaben scheitert, haben wir davon einen Nutzen in Form von neuem Wissen.
Der Hub ist ein Raum, in dem Dinge mal ganz anders gemacht werden können. Ein Ort, an dem Dinge möglich sind, die nicht von vorneherein an bestehenden Strukturen scheitern. Wir verstehen uns als Do-Tank: Uns geht es um die Lösung von konkreten Problemen, die es in der Truppe gibt. Bisher haben wir 120 Innovationsvorhaben umgesetzt: vom digitalen Segelflugsimulator über die mobile Lichtversorgung „Falke“ bis hin zur KI-gesteuerten Software „Prometheus“, mit der im Krisenfall Lagebilder erstellt werden können.
Das Besondere an DIUs ist die Governance-Struktur: Wir agieren im System, ohne Teil des Systems zu sein. Solch eine Struktur einzurichten, erfordert Mut. Andererseits bedeutet Transformation eben auch, den kompletten Prozess zur Disposition zu stellen. Das schließt auch mit ein, dass wir in einer traditionell hierarchisch organisierten Institution die Nutzer und ihre Meinungen ins Zentrum unseres Handelns stellen. In unserem Fall sind das die Soldaten:innen der Bundeswehr – sie sind unsere wichtigste Wissensquelle. Als Tipp- oder Ideengeber genauso wie als Initiatoren von eigenen Intrapreneurship-Projekten. Ohne sie geht es nicht.
Kommen wir noch einmal zum Anfang dieses Textes zurück. Wann haben es digitale Innovationen in Deutschland weniger schwer? Die Antwort ist: Immer dann, wenn alles infrage stehen darf – und auch der Raum dafür existiert.
Im Original erschienen auf: https://background.tagesspiegel.de/cybersecurity/raum-fuer-innovation-schaffen