Liebe Rüstungsindustrie: Mach Dich agil, oder Du wirst von der neuen Realität überholt...
Agilität ist weit mehr als ein „Modewort“. Es ist das Grundprinzip, nach dem die Arbeit an digitalen Innovationen funktioniert. Grob könnte man den Begriff mit „Anpassungsfähigkeit“ übersetzen, ohne ihm dabei jedoch wirklich gerecht zu werden. Flexibilität,Schnelligkeit, proaktives Handeln, antizipatorisches Denken – all das steckt dahinter, wenn wir über „Agilität“ reden. Es sind die Grundtugenden der digitalen Moderne. Und sie sind deswegen notwendig, weil technologischer Fortschritt sich beschleunigt, in kaum vorher-sehbaren Bahnen verläuft und das Wissen Einzelner einen immer größeren Stellenwert gewinnt.
Das eigene Handeln auf die ständig neuen gesellschaftlichen Realitäten anzupassen, Gewissheiten infrage zu stellen und die Bereitschaft zum ständigen Lernen sind die Schlüsselfähigkeiten zum Erfolg in der Ära des digitalen Wandels. Damit das möglich ist, brauchen wir bestimmte Rahmenbedingungen. Dazu zählt beispielsweise, dass wir die nötigen Daten zur Verfügung haben, um auch wirklich lernen zu können. Außerdem muss das System schnelle und flexible Entscheidungen möglich machen. So kann agiles Handeln funktionieren. Leider gibt es damit in Deutschland ein Problem.
Das liegt vor allem daran, dass viele Dinge in Deutschland in der Vergangenheit sehr gut funktioniert haben. Wir leben in einem reichen, weit entwickelten Land, in dem über Jahrzehnte sehr viel Erfahrungswissen darüber angesammelt wurde, was erfolgreiche Handlungsabläufe möglich gemacht hat. Hinzu kommt, dass viele Dinge bis jetzt immer noch funktionieren.
Vor dem digitalen Wandel kann man sich jedoch nicht verstecken.Und dort, wo agile Handlungsweisen bereits jetzt gefragt wären, aber aus ganz verschiedenen Gründen nicht umgesetzt werden, zeigen sich bereits heute Risse in der Wahrnehmung eines scheinbar gutfunktionierenden Landes.
Das alles ist nicht frei von historischer Ironie. Viele wissen nicht, dass „Agilität“ als Konzept einst von den Deutschen erfunden wurde.Genauer gesagt: von den Preußen. In der Schlacht von Zorndorf imJahr 1758 verweigerte General Friedrich Wilhelm von Seydlitz mehrmals ausdrückliche Befehle von König Friedrich II., die russischenTruppen anzugreifen – selbst dann noch, als ihm dafür mit derTodesstrafe gedroht wurde. Der eigenwillige General wusste, dass er mit seinem Blick und seinen Erfahrungswerten besser einschätzen konnte, wann der richtige Zeitpunkt für einen Angriff kommen würde.Er wartete, bis seine Truppen die Gelegenheit hatten, die russischeHauptstreitmacht in die nahegelegenen Sümpfe zu treiben. So gewann Preußen die Schlacht. Das „Führen mit Auftrag“ wurde fort an zur ersten aus definierten agilen Arbeitsmethode.
Wenn wir auf die Zusammenarbeit zwischen der deutschen Industrie und dem Militär schauen, ist mangelnde Agilität ein Kernproblem, das sich auch auf die Fähigkeit auswirkt, schnell und anpassungsfähig auf sich wandelnde weltpolitische Lagen reagieren zu können. Vier Kernprobleme möchte ich benennen.
Erstens: Innovationen werden immer noch zu weit in dieZukunft gedacht.
In der Start-up-Welt gibt es einen wichtigen Treiber für Innovationen:den Sense of Urgency. Für Start-ups gehört dieses „Dringlichkeitsempfinden“ zur DNA: Sie müssen sich am Markt etablieren, konkurrieren mit anderen jungen Unternehmen um Finanzierungsrunden und sind auch deswegen dazu gezwungen, das eigeneGeschäftsmodell immer wieder entlang der eigenen Learnings und der aktuellen Geschäftssituation anzupassen. Täten sie das nicht, bedeutete dies binnen Wochen oder Monaten die sichere Pleite.
Auch in der Rüstungspolitik gibt es so etwas wie einen Sense of Urgency. Denken wir nur an Israel – ein Land, das allein durch seine geografische Lage dazu gezwungen ist, die eigene Verteidigungsfähigkeit ständig weiterzuentwickeln. In Deutschland war dieses Dringlichkeitsempfinden in den ersten drei Jahrzehnten seit derWiedervereinigung weitestgehend absent. Das zeigte sich nicht nur in sinkenden Rüstungsausgaben und der scheinbaren Gewissheit,„von Freunden umzingelt“ zu sein. Es schlägt sich auch in der Dauer von Beschaffungsvorhaben nieder.
Dazu muss man wissen: Innovationen laufen vor dem Hintergrundeines Dringlichkeitsempfindens anders. Sie sind auf den Sense ofUrgency fokussiert, laufen aufgrund des durch die Notsituation entstandenen Drucks kleinteiliger und werden durch stetes Lernen vorangetrieben. Man „experimentiert“ sich in die Zukunft, weil fürlangfristige Entwicklungsprojekte schlicht die Zeit fehlt. Neue Ideenwerden schnell in ein Minimum Viable Product (MVP) umgesetzt und umgehend getestet. Mit dem Feedback der Nutzerinnen und Nutzer wird das Produkt weiterentwickelt, ergänzt, ausgebaut. Fehler sind nicht beabsichtigt, können aber passieren – man kann auch aus ihnen lernen. Das ist, im klassischen Sinn, agiles Denken.
In der Rüstungsindustrie werden Innovationen größtenteils leider immer noch komplett anders gedacht: Nicht in kleinen Schritten, sondern in großen Zukunftsintervallen von zehn, 15 oder sogar 20 Jahren. Nicht mit dem MVP als Grundlage, sondern mit der „Goldrandlösung“ als Endprodukt – die am Ende alle Stakeholder zufriedenstellen soll und bisweilen doch nicht das hält, was sie verspricht.
Es gibt gute Gründe, warum solche Großprojekte am Ende oft scheitern oder zumindest große Unzufriedenheit bei den Nutzerinnen und Nutzern auslösen. Denn wenn erst einmal damit begonnen wurde, an einer „Goldrandlösung“ zu arbeiten, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass solche Vorhaben wieder eingestellt werden –selbst wenn sie sich als Fehler erweisen. Die Investitionen sind bereits in der Frühphase so groß, dass der einmal eingesetzte Aufwand einenRechtfertigungsdruck auslöst. Wer will am Ende schon derjenige sein, der die Verantwortung für die Verschwendung von Millionensummen trägt? Rüstungsprojekte sind oft bereits im Anfangsstadium too big to fail. Und dieses Problem verfolgt uns in Deutschland bereits seitJahrzehnten.
Natürlich kann man die Planung im Rüstungsbereich nicht komplett auf die Erfordernisse des Sense of Urgency auslegen. Das ginge mit derDauer womöglich auch auf Kosten der Exzellenz – denn bestimmte, sehr komplexe Technologien müssen über einen längeren Zeitraumerdacht und geplant werden. Wenn es jedoch um die in steter Regelmäßigkeit scheiternden „Goldrandlösungen“ geht, gibt es ein Mittel, das zu einer Lösung des Problems beiträgt, nämlich Performance-based Contracts: Unternehmen werden nur noch für die Leistung bezahlt, die sie am Ende tatsächlich erbringen. Von solchen Verträgen brauchen wir noch mehr, als dies bereits jetzt der Fall ist. So könnte man verhindern, dass faktisch aussichtslose Projekte zu Ende geführt werden, weil sich niemand traut, die Notbremse zu ziehen.
Zweitens: Die Beschaffungszeiten sind viel zu lang.
Aber damit hat man ein zentrales Problem noch nicht gelöst, das entsteht, wenn Sicherheitspolitik einem Dringlichkeitsempfinden folgen muss – nämlich die oftmals sehr langen Beschaffungszeiten, die es im deutschen Militär gibt.
Ein Beispiel: Während durch den russischen Angriffskrieg in derUkraine klar wird, dass Panzern wohl auch auf den Schlachtfeldern der Zukunft eine zentrale Rolle zukommen könnte, ist weiterhin unklar, wann das sich seit vielen Jahren in Planung befindliche Nachfolgemodell des „Leopard 2“ in der deutschen Panzertruppe zum Einsatz kommen wird. 2035? Oder eher 2040?
Man könnte jetzt sagen, dass es besonders bei der Entwicklung von neuen Kampfpanzern lange Zeit kein Dringlichkeitsgefühl gab – diePanzertruppe wurde in Deutschland nach 1990 aufgrund der sich ändernden Sicherheitslage schrittweise verkleinert. Andererseits zeigt das auch, welche Schwächen die langen Planungshorizonte von15 oder 20 Jahren haben.
Machen wir den Realitätstest: In welcher Welt haben wir vor 20 Jahren gelebt? Russland war damals ein strategischer Partner derNATO, Wladimir Putin hatte ein Jahr zuvor in einer Rede im Bundes-tag die deutsch-russische Freundschaft beschworen und der Krieg gegen den internationalen Terrorismus schien endgültig die Weichenfür den Umbau der Bundeswehr zur „Einsatzarmee“ zu stellen. Wer hätte damals erwartet, dass es 20 Jahre später zu einem Krieg zwischen zwei der größten europäischen Länder kommen würde, in dem binnen der ersten Monate bereits Zehntausende Menschengestorben sind?
Wir sollten nicht nur bei der Entwicklung neuer Technologien schneller werden, sondern dementsprechend auch die Zeithorizonte für die Zukunftsplanung enger ziehen. Dort, wo das nicht möglich ist, muss jene Rüstungstechnologie angeschafft werden, die schnellam Markt verfügbar ist. Es spricht nichts dagegen, auf das Know-How von verbündeten Ländern zurückzugreifen. Die Denkweise, dass dieBundeswehr bevorzugt Produkte aus Deutschland nutzen soll, ver-langsamt die Beschaffungsprozesse nämlich zusätzlich. Seit dem
24. Februar 2022 wird bereits in diese Richtung gedacht, wir sollten das noch viel konsequenter umsetzen.
Drittens: Ausschreibungsverfahren sind nicht mehr zeitgemäß.
Wenn wir über Planungshorizonte sprechen, sollten wir auch darüber reden, was geplant wird. Bei der klassischen „Goldrandlösung“ ist es immer eine spezielle Technologie, die am Ende der Truppe zur Verfügung stehen soll: der neueste Kampfpanzer, die neueste Panzerhaubitze oder Ähnliches. Genau hier liegt aber das Problem derZukunftsplanung: Wer weiß, ob eine spezielle Technologie – auch in einem absehbaren Zeitraum – noch so dringend gebraucht wird wie zum Zeitpunkt der Ausschreibung?
Klassische Ausschreibungsverfahren fokussieren stets auf die Bedürfnisse, die aus der Planung von „Goldrandlösungen“ entstehen. ImZentrum steht eine bestimmte Technologie, die angeschafft werden soll. Damit verstetigen diese Verfahren bestimmte Schwächen, die in der Planung und Beschaffung veranlagt sind.
Was wir bräuchten, wäre ein agiles Beschaffungsverfahren. Eines, das auch auf sich verändernde Bedürfnisse und Ansprüche Rücksicht nimmt und das den Verantwortlichen größere Freiheiten gewährt. Mein Vorschlag: Statt einer bestimmten Technologie sollte künftig die Ermöglichung von bestimmten militärischen Fähigkeiten ausgeschrieben werden. Auf dieser Basis ist mehr Wettbewerbmöglich: Es gäbe bei Ausschreibungen die Chance, zwischen verschiedenen Lösungen zur Ermöglichung einer bestimmten Fähigkeitzu entscheiden.
Viertens: Das Problem mit den Schnittstellen.
Wir müssen auch über das Problem der Datenverfügbarkeit reden.Das ist insofern wichtig, als agiles Lernen auch immer eine umfang-reiche Datengrundlage benötigt. Wenn eine Nutzerin oder ein Nutzer nicht weiß, wie eine digitale Technologie funktioniert, kann sie oder er weder Feedback geben noch die Nutzung eigenverantwortlich weiter-entwickeln oder weiterentwickeln lassen. Die Nutzerin ist in diesemFall die Bundeswehr. Und das Problem, das aus der Monopolisierung der Daten durch die Hersteller entsteht, besteht vor allem in der Entwicklung von zukünftigen Technologien.
Daten fallen heute bei fast allen modernen Technologien an. Und sie werden zu einem immer größeren Wettbewerbsfaktor. Das sieht man derzeit beispielsweise bei der Automobilindustrie. Ein Auto ist längst nicht mehr nur ein fahrbarer Untersatz, sondern ein motorisierter Computer. Die Industrie schweigt meist darüber, welche Datenerhoben, gespeichert und verarbeitet werden. Expertinnen undExperten gehen davon aus, dass selbst der Fahrstil analysiert wird.Diese Daten sind ein echter Schatz: Jeden Tag werden sie vonMillionen von Autofahrerinnen und Autofahrern ermöglicht. Und weil sie so massenhaft anfallen, lassen sie valide Rückschlüsse darüber zu, wie Auto und Mensch interagieren und wo man bei einer Weiter-oder Neuentwicklung ansetzen könnte.
Es gibt seit Jahren Konflikte darüber, wie mit den Daten aus der Automobilindustrie umzugehen ist. Ich will das in diesem Fall gar nicht bewerten, aber bei Waffensystemen wie der „Panzerhaubitze 2000“oder beim Schützenpanzer „Puma“ wird das industrielle Datenmonopol zu einem Problem. Die mit Steuermitteln vergebenen Auf-träge sorgen dafür, dass sich auch im Militärwesen eine Kultur des Winner takes it all entwickelt: Wer einmal Aufträge bekommen hat, kann durch die Verarbeitung der Nutzungsdaten einen Entwicklungsvorsprung erreichen, der durch Mitbewerber nur schwer wieder einzuholen ist.
Zudem fehlen die Daten auch bei jenen Stellen im Militärwesen, dieInnovationen in die Truppe bringen sollen. Mithilfe der Daten ließen sich nicht nur weitere Großprojekte voranbringen, sondern auch alles, was im Kontext der Nutzung dieser Systeme steht.
Industrien, die ihre Aufträge vom Staat bekommen, sollten grundsätzlich dazu verpflichtet werden, Schnittstellen einzurichten und die erhobenen Daten an berechtigte Stakeholder freizugeben.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine löst ein Dringlichkeitsempfinden aus
Nimmt man die oben geschilderten Befunde zusammen, zeigt sich vor allem eines: Die von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündeteZeitenwende bedeutet weit mehr als die Bereitstellung von zusätzlichen Finanzmitteln zur Ausrüstung der Bundeswehr. Es wäre
sehr einfach gedacht, sie nur auf das Handeln der Regierung zu reduzieren. Tatsächlich ist die Zeitenwende eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die neben vielen anderen Dingen auch die Prüfung von scheinbaren Gewissheiten und die Veränderung des Mindsets derRüstungsindustrie umfasst.
Wenn wir jedoch das Problem als Ganzes sehen, fällt auf, dass die Zeitenwende eigentlich schon bereits vor 20 Jahren begonnen
hat – nämlich mit dem Siegeszug der digitalen Technologien. Bereits damals wäre eine agilere Denkweise in der Zusammenarbeit zwischen Militär und Rüstungsindustrie nötig gewesen. Dazu ist es jedoch viel zu selten gekommen. Der russische Angriffskrieg auf
die Ukraine ist nun im Grunde das, was wir als einen sicherheits-politischen Sense of Urgency beschreiben könnten: Vor dem Hintergrund des Dringlichkeitsempfindens wird uns klar, was alles schnellst-möglich verändert werden muss. Wir sollten diese Chance nutzen.